Marie-Laure de Decker. Tibesti Tchad,1976-78
Das Maison Européenne de la Photographie widmet Marie-Laure de Decker (1947-2023) ihre erste große Retrospektive. Was als überfällige Wiederentdeckung einer wichtigen Fotografin angelegt ist, wird auch zu einer Fallstudie über die Macht kuratorischer Interpretation: Wie werden historische Fotografien zu Trägern heutiger politischer Botschaften umgedeutet? Und wo verlaufen die Grenzen zwischen dokumentarischer Neutralität und engagierter Parteinahme?
Als Betrachter, der Deckers Werk zum ersten Mal begegnet, bin ich allein auf das angewiesen, was die Ausstellung zeigt und wie sie es kontextualisiert - eine Position, die sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen der Interpretation verdeutlicht.
Deckers Werdegang ist unkonventionell: Mit 17 studierte sie Design, entdeckte die Fotografie durch Ausstellungen in der Galerie Delpire und arbeitete zunächst als Model. 1971 sprang sie mit 23 Jahren ohne formale fotografische Ausbildung direkt ins kalte Wasser des Vietnamkriegs – ein bemerkenswerter Seitenwechsel von der Fotografierten zur Fotografin.
Diese autodidaktische Herkunft könnte ihre spätere Sensibilität für menschliche Begegnungen erklären. Wer selbst vor der Kamera gestanden hat, entwickelt möglicherweise ein anderes Gespür für die Dynamik zwischen Fotografin und Porträtiertem. Ihre frühen Vietnam-Bilder zeigen bereits eine bemerkenswerte technische Sicherheit – Belichtung, Komposition und Bildaufbau funktionieren präzise, als hätte sie jahrelang geübt.
Deckers Vietnam-Arbeiten dokumentieren den Krieg nicht als spektakuläres Ereignis, sondern als menschliche Erfahrung. Statt auf Sensationsfotografie setzt sie auf stille Momente zwischen den Kämpfen: GIs, die auf Sandsäcken sitzen, ein Soldat am Funkgerät, Weihnachten in Da Nang. Diese Bilder etablieren ihr späteres Credo: Menschen fotografieren, nicht Ereignisse.
Marie-Laure de Decker. Noël à Da Nang Vietnam, 1971
Her reportage on the reunification of the two Yemens in 1973 shows Decker at the height of her documentary abilities. The portrait series of fighters from North and South Yemen functions like a visual essay on the political and cultural differences between the warring states. Particularly remarkable: her photographs of women in Marxist South Yemen, posing with Kalashnikovs but wearing colorful summer dresses—a perfect image of the contradictions in a society undergoing radical change.
Ihre Reportage über die Wiedervereinigung der beiden Yemen 1973 zeigt Decker auf dem Höhepunkt ihrer dokumentarischen Fähigkeiten. Die Porträtserie der Kämpfer aus Nord- und Südjemen funktioniert wie ein visueller Essay über die politischen und kulturellen Unterschiede zwischen den verfeindeten Staaten. Besonders bemerkenswert: ihre Aufnahmen der Frauen im marxistischen Südjemen, die mit Kalaschnikows, aber in bunten Sommerkleidern posieren – ein perfektes Bild für die Widersprüche einer Gesellschaft im radikalen Wandel.
Hier zeigt sich die entscheidende Frage: Wessen Stimme hören wir in der Ausstellung? Deckers eigene Positionen oder die Interpretationen der Kuratoren von 2024?
Besonders deutlich wird das bei ihren Aufnahmen aus Palästina-Flüchtlingslagern von 1973. Die Bilder zeigen Kinder mit Würde und Hoffnung in den Augen – dokumentarische Fotografie im besten Sinne. Der Begleittext jedoch transformiert sie zu einer politischen Anklage gegen "ongoing suffering and the denial of fundamental rights of the Palestinian people". Eine klare Positionierung, die mehr über heutige Kuratorensichtweisen aussagt als über Deckers damalige Absichten.
Marie-Laure de Decker. Camps de réfugiés palestiniens, près d’Amman, Jordanie, 1973
Ähnlich problematisch bei ihren Aufnahmen aus Mosambiks "Umerziehungslagern" 1979: Die Texte beschönigen Zwangsarbeit als "vigor of the captives" - aber stammt diese Interpretation von Decker oder von den Ausstellungsmachern? Die Netzwerke der Bedeutungsproduktion zwischen Fotografin, Kuratoren und Besuchern bleiben undurchsichtig.