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Die Leerstelle des Antlitzes

Notizen aus der Punta della Dogana

Der zufällige Ursprung einer Metapher

Manchmal entstehen die mächtigsten künstlerischen Metaphern durch puren Zufall. Als Thomas Schütte in den frühen 1980er Jahren versuchte, eine kleine Star Wars-Figurine zum Stehen zu bringen, schüttete er versehentlich zu viel Wachs aus. Das Wachs lief über bis zu den Waden der Figur und fixierte sie buchstäblich an ihren Sockel. Was als handwerklicher Missgeschick begann, erkannte der Künstler sofort als kraftvolle Metapher - und stellte sich bereits in den ersten Skizzen monumentale Projekte für öffentliche Räume vor.

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Heute, vier Jahrzehnte später, stehe ich wieder einmal im ersten Saal von Schüttes Retrospektive “Genealogies” in der Punta della Dogana vor drei dieser monumentalen "Männer im Matsch". Ihre Körper scheinen sich mit dem Wind bewegen zu wollen, doch ihre Füße sind unausweichlich im Sockel gefangen. Es sind Anti-Denkmäler einer neuen Art: nicht Verherrlichung, sondern "eine Ode an das Scheitern und die Ausdauer", wie es im Ausstellungstext heißt.

Das Gesicht in der Hand

Besonders eine Figur zieht meinen Blick an: der deutlich kleinere "Mann ohne Gesicht" von 2018, eine bronzene Gestalt mit grünlicher Patina, die am hinteren Ende des Raums steht. Während die drei monumentalen Figuren den Raum dominieren, bildet diese intime Skulptur einen fast privaten Kontrapunkt zu deren anti-heroischen Monumentalität. Sie ist gesichtslos - das Antlitz ist abgeschnitten, weggeflext, ausgelöscht. Doch bei näherer Betrachtung wird ein Rätsel sichtbar: Er trägt etwas in der rechten Hand. Ist es das abgetrennte Gesicht? Eine Geste, die zwischen Verlust und verzweifelter Bewahrung, zwischen Zerstörung und hilfloser Darbietung des Verlorenen oszilliert.

Diese Skulptur löst in mir zunächst eine eigenartige Ruhe aus. Keine Forderungen, keine Blicke, kein Gegenüber. Aber es ist eine trügerische Stille. Es ist vielmehr eine Leere, eine Abweenheit. Die grüne Patina erzählt von Zeit, die vergeht, ohne dass ein individuelles Bewusstsein sie erlebt. Es ist nicht gelebte Zeit der Erinnerung und Erwartung, sondern anonyme Zeit des Verfalls.

Das "Il y a" - Wenn das Sein zur Bedrohung wird

Mir fällt die Beziehung auf zu dem Philosophen, mit dem ich mich momentan wieder stärker beschäftige. Die Skulptur erinnert mich an Emmanuel Lévinas und sein verstörendes Konzept des "Il y a" - jenes anonyme, unpersönliche "Es gibt", das eine Form des anonymen, unpersönlichen Seins beschreibt, das jeder individuellen Existenz vorausgeht. Es ist nicht das Nichts, aber auch nicht das bestimmte Etwas. Stellen Sie sich vor: die Unruhe einer schlaflosen Nacht, wenn alle Gegenstände verschwimmen und nur noch ein dumpfes, bedrängliches "Da-Sein" bleibt - ohne Subjekt, ohne Objekt, ohne Sinn. Das "Il y a" bei Lévinas ist ein erstickender Horror - das pure "Dass" ohne jedes "Was" oder "Wie".

Schüttes gesichtslose Figur kommt mir wie eine nahezu perfekte Verkörperung dieses philosophischen Konzepts vor. Sie hat die Form des Menschlichen, aber ohne das, was bei Lévinas den Menschen eigentlich ausmacht: das Antlitz. DAs Antlitz, auf Französisch "visage", ist in Lévinas' Ethik der Ort der Begegnung mit dem absolut Anderen, der Ort des ethischen Imperativs "Du sollst nicht töten". Die Figur Schüttes zeigt uns ein Menschenbild ohne diese ethische Dimension - pure Existenz ohne die Möglichkeit der Begegnung.

Widerfahren

Was aber geschieht mit uns als Betrachtern vor dieser Skulptur? Bei Lévinas ist die ethische Erfahrung nie etwas, was wir aktiv herbeiführen, sondern etwas, was uns überfällt, uns “ankommt”. So auch hier: Die Begegnung mit der gesichtslosen Figur ist kein ästhetisches Urteil, das wir fällen, sondern ein Ereignis, das uns trifft. Die Skulptur sucht nicht unsere Bewunderung - sie konfrontiert uns mit einer Leere, die wir nicht ignorieren können. In dieser erzwungenen Aufmerksamkeit vor dem Kunstwerk zeigt sich vielleicht der Weg aus dem “Il y a”: nicht durch aktive Überwindung, sondern durch die Bereitschaft, sich von der Leerstelle des Anderen treffen zu lassen.

Die gefesselte Figur wird so gerade durch die Abwesenheit des Antlitzes zu einem stummen Appell an unsere ethische Verantwortung. Die Leerstelle des Gesichts wird zum Verweis auf dessen Notwendigkeit.

Erstes Erwachen

Am Ende der Ausstellung steht der “Große Frauenkopf” von 2021. Die Augen geschlossen, das Gesicht idealisiert, aber entrückt. Nach der ganzen Reise durch Gesichtslosigkeit und Gefangenschaft - ein Antlitz, das da ist, aber noch nicht erwacht.

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Wenn der “Mann ohne Gesicht” die schlaflose Nacht des “Il y a” verkörpert, dann ist diese Büste vielleicht das erste, zögerliche Licht des Morgens. Das Antlitz ist wieder da, aber es ist noch im Traum, in einer Sphäre vor dem ethischen Appell, vor der direkten Konfrontation.